Die Besucher meiner Website wissen bereits, dass ich neuerdings – gänzlich unbeabsichtigt – unter die Krimiautoren gegangen bin. Da meine grundsätzlich wirklich wahren Geschichten zu diesem Thema nichts hergeben, muss ich verstärkt mit reißerischen Überschriften arbeiten. Soviel zur Todesfalle. Obwohl genau besehen…. In diesem speziellen Fall hätte es durchaus eine werden können. Aber der Reihe nach.
Ich sitze heute morgen gemütlich in meiner Leseecke am Balkonfenster. Am Balkongitter hängt ein Vogelhäuschen, das ich – obwohl ich weiß, dass man das nicht tun soll – auch außerhalb der Winterfütterungszeit bediene. Ich schaue gern den Kohl- und Blaumeisen zu, die meine Vogelbar sehr schätzen und dabei mit Grünlingen und Rotkehlchen konkurrieren. Die Grünlinge sind – wenn sie gerade da sind – immer die Platzhirsche und überlassen den anderen die Futterquelle erst, wenn sie wirklich full to burst sind. Das finde ich zwar etwas unfein, aber ich lasse sie gewähren und befülle das Häuschen nach dem Besuch der unersättlichen Gäste einfach neu. Denn meine Kohl- und Blaumeisen liegen mir besonders am Herzen. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Einmal hatte ich sogar eine Mönchsgrasmücke zu Gast, deren Namen ich erst durch heftiges Googeln erfahren habe. Leider kam sie nicht wieder. Warum? Das weiß ich auch nicht. Wenigstens meine Meisen bleiben mir treu. Davon habe ich eine ganze Menge. Wann immer mir jemand dies zum Vorwurf macht, kann ich nur zustimmen. Es sind mindestens zwölf.
Ich sitze heute morgen also in meiner Leseecke und schwänze das Leben. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Eine Krähe rast mehrmals im Sturzflug am Vogelhäuschen vorbei. Wenn sich jetzt jemand fragt, warum eine einzelne Krähe den Himmel verdunkeln kann, so ist dazu zu sagen, dass der Balkon sehr klein ist, sozusagen ein Bonsai-Balkon. Das trifft auch auf das Balkonfenster zu, durch das ich die Szene beobachte. Bei diesen Ausmaßen kann eine einzelne Krähe tatsächlich für eine starke Verdunklung sorgen.
Doch wir wollen hier nicht abschweifen. Ich mag Krähen, aber nicht in der Nähe meiner Meisen. Eigentlich sind Krähen viel zu intelligent, um den Versuch zu wagen, ein frei hängendes Vogelhäuschen anzusteuern. Eichhörnchen machen das manchmal, bezahlen diesen Akt der Räuberei jedoch regelmäßig mit einem Sturz vom Balkon. Was ihnen nicht viel ausmacht, meine Wohnung liegt – Eichhörnchengerecht – im Parterre. Aber die Krähe! Was hat die hier heute morgen zu suchen?
Ich gehe auf den Balkon, um nach dem Rechten zu sehen. Zunächst entdecke ich nicht Ungewöhnliches. Aber da ist so ein komisches Geräusch. So eine Art schleifendes Kratzen. Ich schaue über die Balkonbrüstung in den Garten. Alles friedlich wie es sich für einen schönen Sonntagmorgen gehört. Da wieder: Das Kratzgeräusch…
Mein Blick fällt auf das Vogelhäuschen. Mir erstarrt das Blut in den Adern. Durch das Sichtfenster sehe ich eine junge Blaumeise hilflos mitten im Vogelhäuschen flattern. Sie muss auf ihrer Suche nach den letzten Körnern durch den kleinen Spalt am unteren Ende da hinein geschlüpft sein. Natürlich kann sie nicht wissen, dass sie sich auf dem gleichen Wege auch wieder hinaus zwängen könnte. Wie furchtbar. Da sitzt sie im Vogelschlaraffenland dicht vor dem Notausgang und wird ihr junges Leben ohne fremde Hilfe verlieren müssen. Ich lüfte vorsichtig den Vogelhaus-Deckel und…alles gut. Die junge Meise flieht in die Vogelfreiheit.
Und so verdankt eine kleine Blaumeise auf einem Balkon am Rande der Innenstadt von Braunschweig einem Feind ihr junges Leben. Wäre die Krähe nicht gewesen, die allerdings mit anderen Absichten zugegen war, ich wäre heute morgen nicht auf den Balkon gegangen und wäre wahrscheinlich viel zu spät in das Tierdrama einbezogen worden. Das hätte mir das Herz gebrochen. Übrigens auch, wenn es einer dieser unsympathischen Grünlinge gewesen wäre.