Leseprobe ·Ostern mitten im Dezember

Die Hausbesetzung

Alle Jahre wieder kurz vor Weihnachten wird bei uns das Pfefferkuchenhaus gebacken. Es ist eine besondere Herausforderung, die einzelnen Teigstücke so herzustellen, dass sie am Ende passend sind und die Statik stimmt. Gelingt das nicht, ist das Teil nur von Eingeweihten als Haus zu erkennen und dem späteren Ansturm der Pfefferkuchen-Knabberer nicht lange gewachsen. Heutzutage ist das viel einfacher. Es gibt Bausätze, die mit Zuckerguss zusammen zu setzen sind und keine großen Anforderungen an handwerkliches Geschick stellen. In den Tagen, von denen ich erzähle, gab es so etwas nicht.

Nun gut. In dem Jahr, über das ich berichte, gelingt das Lebkuchengebäude ungewöhnlich gut. Es sieht aus wie ein Haus und steht wie ein Haus. Es hat Fenster und eine Tür, die sich öffnen lässt. Auch ein Schornstein mit Watterauch wird nicht vergessen. Die Kinder bekleben es mit reichlich Zuckerkram. Für wenige Stunden ist es ein dekorativer Blickfang in unserer Weihnachtsstube. Zumindest solange, bis die Kinder damit anfangen, die Verkleidung abzunaschen.

Normalerweise geht das Pfefferkuchenhaus am zweiten Weihnachtsfeiertag unter großem Gejohle zu Bruch. In diesem Jahr allerdings nicht. Ich kann nicht sagen, warum die Kinder es verschont haben. Jedenfalls bin ich sehr froh darüber. Das wird mir im nächsten Jahr die nervige Backarbeit ersparen. Ich verpacke es vorsichtig und stelle es auf den Speicher.

Unser erstes Pfarrhaus ist 160 Jahre alt. In solchen Häusern wohnt man nie allein. Wir teilen es mit allerlei Getier, das in den Zwischenböden wohnt. Besonders Mäuse fühlen sich in solchen Refugien wohl. Was da sonst noch haust, möchte ich lieber nicht wissen.

Mäuse mag ich – solange sie in den Zwischen-böden bleiben, höre ich gerne ihrem Getrappel zu. Wenn mein Mann Oboe übt, rast die ganze Bande von einem Ende des Bodens zum anderen. Das hört sich an wie Meeresbrandung, die auf einen Geröllstrand trifft. Ob die hohen Oboentöne unsere Mitbewohner inspirieren oder eher in Panik versetzen, könnte eine gute Frage für „Wer wird Millionär“ abgeben.

In der Wohnung dulde ich Mäuse nicht. Da kenne ich kein Pardon. Doch die Mäuse tricksen mich aus, sie kommen immer nachts, so zwischen zwei und drei Uhr. Wussten Sie, dass Mäuse Schokolade lieben? Käse und Speck sind nicht so ihre Sache. Der Schokolade können sie nicht widerstehen. Wie ich heute weiß, auch Lebkuchen nicht. Ganz besonders attraktiv für Nager sind mit Schokolade überzogene Lebkuchenherzen.

Während das Pfefferkuchenhaus auf dem Dach-boden auf seinen nächsten Einsatz wartet, baue ich den Mäusen eine Falle. Ich lege ein Lebkuchenherz in den Papierkorb unseres Schlafzimmers und warte. Nicht umsonst. Um 2.30 Uhr höre ich: „Kruschel, Raschel“. Dann Stille und dann wieder: „Kruschel, Raschel“. Jetzt ist es soweit. Ich springe aus dem Bett, werfe ein Handtuch über den Korb und raus damit in den Pfarrgarten. In den nächsten Nächten das gleiche Spiel. Übrigens weiß ich nicht, ob es jedes Mal die gleiche Maus ist. Kann ja sein, dass es sie immer wieder zurück ins Schlaraffenland zieht. Es ist schwer, Mäuse auseinander zu halten. Die sehen alle gleich aus.

So vertreibe ich mir mit der Pfarrhausfauna die Zeit bis zum nächsten Dezember. Jetzt soll das Pfefferkuchenhaus vom letzten Jahr reanimiert werden. Ich packe es aus. Was für eine Bescherung! In der Zwischenzeit hat hier eine Hausbesetzung stattgefunden. Offenbar hat das Pfefferkuchenhaus einer Mäusefamilie als Aufzuchtstation gedient. Ich bin so gerührt, dass ich mich gar nicht darüber ärgern kann, als ich daran gehe, ein neues Häuschen zu backen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Mäusekind und in ein Pfefferkuchenhaus hinein geboren. Welch ein privilegierter Start ins Leben!

 

 

 

aus Ostern mitten im Dezember