Dame mit Hut – Radiogeschichten

Dame mit Hut – Radiogeschichten

 

Herausgeberin: Marianne Reiß

Taschenbuch : 120 Seiten

Verlag: Books on Demand, Mai 2019

Preis: 9,60 €

 

 

Mitglieder der Seniorenredaktion von Radio Okerwelle erzählen Geschichten mitten aus dem Leben.

Seit zwei Jahren gibt es aus der Seniorenredaktion die Sendereihe Geschichten aus dem Leben, alle selbst erlebt und viel zu schade, um nicht aufgeschrieben zu werden. Marianne Reiß hat als Moderatorin der Sendereihe ihre eigenen und die Geschichten ihrer Redaktionskolleginnen und -kollegen in einem Buch zusammengefasst.

Da havariert eine Dame mit Hut mit einem Taxi, eine andere entdeckt beim Kelleraufräumen das Wesen des Mannes. Eine kleine Sünde wird sofort geahndet und ein Reisender macht die Erfahrung, dass die Welt auch nur ein Dorf ist. Eine Hochzeitsreise endet auf vielen Umwegen doch noch in Venedig.

Das Leben ist voller Überraschungen. Geschichten passieren oftmals vor unserer Haustür. Man muss nur einkaufen gehen, einen Wasserhahn nicht richtig zudrehen oder mit der Deutschen Bahn reisen.

Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt im BOD-Buchshop

Aktuelle Blog-Beiträge zu diesem Buch

 

Die Seniorenredaktion von Radio Okerwelle 104,6

(Foto: Dorothea Rieck)

arbeitet ehrenamtlich. Sie hat derzeit elf Mitglieder ab 60 Jahren und sucht immer „Nachwuchs“ – gern auch ab 55. Die Redaktion recherchiert zu unterschiedlichen Themen, führt Interviews, stellt Texte und Musik zusammen und bereitet das Ganze dann sendefähig auf. Auch die Geselligkeit kommt nicht zu kurz. Bei gemeinsamen Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung Braunschweigs entstehen daraus häufig neue Beiträge für die Okerwelle.

Die Sendungen sind im Nachmittagsmagazin „Dabei nach Drei“ zu hören. Von Montag bis Donnerstag um 15 Uhr, kurz nach den Nachrichten.

 

Leseprobe: Die Todesfalle

Am Sonntagmorgen sitze ich gerne in meiner gemütlichen Leseecke am Balkonfenster. Am Balkongitter hängt ein Vogelhäuschen, das ich (obwohl ich weiß, dass man das nicht tun soll) auch außerhalb der Winterfütterungszeit bediene. Ich schaue gern den Kohl- und Blaumeisen zu, die meine Vogelbar sehr schätzen und dabei mit Grünlingen und Rotkehlchen konkurrieren. Die Grünlinge sind, wenn sie erscheinen, immer die Platzhirsche und überlassen den anderen die Futterquelle erst, wenn sie wirklich full to burst sind. Das finde ich zwar etwas unfein, aber ich lasse sie gewähren und befülle das Häuschen nach dem Besuch der unersättlichen Gäste einfach neu. Denn meine Kohl- und Blaumeisen liegen mir besonders am Herzen. Warum das so ist, kann ich nicht sagen.

Einmal hatte ich sogar eine Mönchsgrasmücke zu Gast, deren Namen ich erst durch heftiges Googeln erfahren habe. Leider kam sie nicht wieder. Warum? Das weiß ich auch nicht. Wenigstens meine Meisen bleiben mir treu. Davon habe ich eine ganze Menge. Wann immer mir jemand dies zum Vorwurf macht, kann ich nur zustimmen. Es sind mindestens zwölf.

Ich sitze also in meiner Leseecke und schwänze das Leben. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Eine Krähe rast mehrmals im Sturzflug am Vogelhäuschen vorbei. Wenn sich jetzt jemand fragt, warum eine einzelne Krähe den Himmel verdunkeln kann, so ist dazu zu sagen, dass der Balkon sehr klein ist, sozusagen ein Bonsai-Balkon. Das trifft auch auf das Balkonfenster zu, durch das ich die Szene beobachte. Bei diesen Ausmaßen kann eine einzelne Krähe tatsächlich für eine starke Verdunklung sorgen.

Doch wir wollen nicht abschweifen. Ich mag Krähen, aber nicht in der Nähe meiner Meisen. Eigentlich sind Krähen viel zu intelligent, um den Versuch zu wagen, ein frei hängendes Vogelhäuschen anzusteuern. Eichhörnchen machen das manchmal,

bezahlen diesen Akt der Räuberei jedoch regelmäßig mit einem Sturz vom Balkon, was ihnen jedoch nicht viel ausmacht. Meine Wohnung liegt Eichhörnchengerecht im Parterre. Aber die Krähe? Was hat die hier heute Morgen zu suchen?

Ich gehe auf den Balkon, um nach dem Rechten zu sehen. Zunächst entdecke ich nichts Ungewöhnliches. Aber da ist so ein komisches Geräusch, so eine Art schleifendes Kratzen. Ich schaue über die Balkonbrüstung in den Garten. Alles friedlich, wie es sich für einen schönen Sonntagmorgen gehört. Da wieder, das Kratzgeräusch… Mein Blick fällt auf das Vogelhäuschen. Mir erstarrt das Blut in den Adern. Durch das Sichtfenster sehe ich eine junge Blaumeise hilflos mitten im Vogelhäuschen flattern. Sie muss auf ihrer Suche nach den letzten Körnern durch den kleinen Spalt am unteren Ende hinein geschlüpft sein. Natürlich kann sie nicht wissen, dass sie sich auf dem gleichen Wege auch wieder hinaus zwängen könnte. Wie furchtbar. Da sitzt sie im Vogelschlaraffenland dicht vor dem Notausgang und wird ihr junges Leben ohne fremde Hilfe verlieren müssen. Ich lüfte vorsichtig den Vogelhaus-Deckel und… die junge Meise flieht in die Vogelfreiheit.

So verdankt eine junge Blaumeise auf einem Balkon am Rande der Innenstadt von Braunschweig einem Feind ihr junges Leben. Wäre die Krähe nicht gewesen, die allerdings mit anderen Absichten zugegen war, ich wäre zu dieser Zeit nicht auf den Balkon gegangen und wäre wahrscheinlich viel zu spät in das Tierdrama einbezogen worden. Das hätte mir das Herz gebrochen. Übrigens auch, wenn es einer dieser unsympathischen Grünlinge gewesen wäre.