Geschichten vom Philip ·Leseprobe ·Reiß-Wolf sucht Familie

Internationale Verwicklungen

Was eigentlich der Auslöser für den dramatischen Zwischenfall war, lässt sich im Nachhinein nicht so recht feststellen. Vielleicht war es der Fluch der guten Tat. Oder das Schweineohr. Könnte auch sein, dass es die Bratkartoffeln waren, die als point of no return die folgenden Ereignisse unumkehrbar in Gang setzten. Aber der Reihe nach.

Die Familie ist zu einer Hochzeit nach München eingeladen. Aufgrund früherer Vorkommnisse, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, wird Schnauzermischling Philip zu Hause bleiben. Nur soviel dazu: Wir kennen ihn und wollen ihm keine Gelegenheit geben, die Feier unnötig aufzumischen. Wir hätten es besser wissen können. Gleich wird sich zeigen, dass wir um die Aufregung nicht herum kommen werden. Da, wo der Philip ist, da passiert was. Immer. Mit einer Unausweichlichkeit, die das Schicksal selbst erzwingt. Obwohl, eigentlich hat er in diesem Fall nur eine klitzekleine Nebenrolle. Dazu völlig schuldlos.

Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wird er zwangsläufig in das Geschehen hinein gezogen. Und das kam so: Ein Freund der Familie, ein Däne, hat sich für die hundevagt angeboten. Dafür ist er für die drei Tage unserer Abwesenheit in unseren Haushalt eingezogen. Dazu muss man wissen, dass dieser Freund – wann immer es etwas zu reparieren gibt – mit einer wohl sortierten Werkzeugkiste anrückt. Leider ist der Grad seines handwerklichen Geschickes um einiges geringer anzusetzen als sein guter Wille. Wann immer er Hand anlegt, ist hinterher eine noch größere Reparatur zu tätigen. Nun, zur Zeit gibt es nichts zu reparieren und so fahren wir beruhigt davon. Wir hätten es besser wissen können. Männer mit wohl sortieren Werkzeugkisten finden immer was.

Die ersten beiden Tage verlaufen friedlich und ohne Vorkommnisse. Aber dann. Am letzten Tag, also dem, an dem die Familie zurück erwartet wird, nimmt das Verhängnis um die Mittagszeit seinen Lauf. Der Däne kocht für den Schnauzer ein Schweineohr. Die Zeit ist günstig, weil die Tochter der Familie das als Vegetarierin nicht gut heißen würde. Aber keine Sorge, noch ist sie ja nicht zu Hause. Alles geht gut, der Philip bekommt sein Schweineohr.

Aber dann. Wenn er schon einmal dabei ist. Der Däne hat ein großes Herz. Vor seinem geistigen Auge erscheint die von der langen Fahrt ausgehungerte Familie. Er entscheidet sich für Bratkartoffeln. Damit kann man nichts falsch machen. Die mag jeder. Und solange kein Speck drin ist, wird er auch bei den vegetarisch gepolten Tischgästen damit punkten können. Für die Fleischesser muss es natürlich mit Speck sein, die sollen ja nicht darben müssen. Was noch? Angebratene Zwiebeln müssen rein. Solche mit und solche ohne Speck. Er braucht also drei Pfannen. Dazu einen Topf, um die Kartoffeln vorzukochen. Dies wird hier nur aufgezählt, um am Ende begreifen zu können, warum er alle verfügbaren Herdplatten in Gang zu setzen hat. Vier an der Zahl.

Wir hätten es wissen können. Der Däne allerdings nicht. Ihn trifft keine Schuld. In unserem Haushalt funktionieren seit etlichen Jahren nur drei Herdplatten. Die vierte nicht. Das ist in Vergessenheit geraten. Bei uns werden selten mehr als zwei Platten gleichzeitig gebraucht. Bisher hat sich niemand daran gestört oder irgendetwas vermisst. Deshalb kam auch niemand auf die Idee, diesem Umstand abzuhelfen. Aber jetzt der Däne. Er braucht alle vier Herdplatten für die Bratkartoffeln. Er dreht an allen Schaltern. Wartet, ob alle Platten anheizen. Drei tun es. Die vierte nicht. Er wirft einen prüfenden Blick in den Sicherungskasten, um festzustellen, dass alle Sicherungen an ihrem Platz sind und das Problem dort nicht zu beheben ist. Es muss also tiefer liegen. Wieder dreht er an den Schaltern und wieder gehorchen nur drei Platten dem Impuls. Die vierte – so entscheidet er schließlich – ist defekt. Doch nicht sein kann, was nicht sein darf. Getreu dem Motto, dass das, was da ist, auch funktionieren muss, ist er sich sicher, dass der Defekt neueren Datums ist und irgendwie mit ihm zu tun hat. Das darf ein Mann mit wohl sortiertem Werkzeugkasten nicht auf sich sitzen lassen.

Was soll er tun? An einer defekten Herdplatte herum zu basteln ist nicht ohne. Da ist Starkstrom drin. Hektisch beginnt er damit, die einzelnen Schalter abzuschrauben und alle Kontakte zu säubern. Welche Kunstgriffe er noch verwendet, entzieht sich der Kenntnis der Chronistin aufgrund fehlender elektrotechnischer Erfahrungen. Immerhin schafft er es, die seit Jahren mausetote Herdplatte für Bruchteile von Sekunden zum Leben zu erwecken. Ein letztes postmortales Aufflackern und der komplette Haushalt wird durch einen Kurzschluss lahm gelegt. Nichts geht mehr, jedenfalls nichts, was Strom braucht. Jetzt ist er mit seinem Latein am Ende.

Auf seine Freunde kann er sich verlassen. Er ruft einen polnischen Freund zu Hilfe. Der ist Elektriker und kennt sich damit aus. Vor allem hat er das richtige Werkzeug. Der hilfsbereite Pole ist innerhalb weniger Minuten zur Stelle. Er schreitet beherzt zur Tat, schraubt hier, prüft da und kann den Fehler nicht entdecken. Doch nicht sein kann, was nicht sein darf. Die beiden Männer werden doch jetzt nicht aufgeben? Sie nehmen die gesamte Küche auseinander. Holen alle Großgeräte und Unterschränke von ihrem angestammten Platz, um dahinter nach der Logik der elektrischen Verkabelung zu suchen. Natürlich bleiben bei einem solchen Unternehmen auch die angrenzenden Räume nicht verschont. Warum allerdings die schwere Sofagarnitur am anderen Ende der Wohnung von der Wand gerückt werden musste, wird auf ewig im Dunkeln bleiben.

Jetzt kommt der Philip endlich zum Zuge, der bis dahin nur eine Beobachterposition eingenommen hat und dabei nicht mehr im Wege lag als sonst auch. Wie oft passiert es einem Schnauzer schon, hinter den Küchenschränken herum schnüffeln zu können, um bei dieser Gelegenheit jede Menge verloren Geglaubtes wieder zu finden und darüber hinaus neue Entdeckungen zu machen, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befinden. Besonders reizt ihn die Plastikverpackung der Speckwürfel, die bei dem ganzen Durcheinander heruntergefallen ist. Er schnappt sich das Teil und verschwindet damit in Richtung Hundekorb. Jetzt ist rasches Handeln angesagt. Der Däne weiß aus leidvoller Erfahrung, dass der Schnauzer gern Dinge verschluckt, die er hergeben soll und nicht immer kommen größere unverdauliche Teile auf natürlichem Weg aus ihm wieder heraus. Bevor es also in der Küche weiter gehen kann, muss eine drohende Notoperation in der Tierklinik verhindert werden. Er und sein polnischer Freund versuchen es mit gutem Zureden. Doch jeder, der einen Schnauzer hat, weiß, dass sie damit sehr schnell an ihre Grenzen stoßen. Der Philip wird bockig, beißt die Zähne fest zusammen. Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, die möglicherweise die Ursache für die größeren Verwüstungen in der restlichen Wohnung sind. Könnte gut sein, dass dieser Nebenkriegsschauplatz auch die logische Erklärung für die abgerückte Couchgarnitur ist. Aber wir wollen uns jetzt nicht mit unnötigen Mutmaßungen aufhalten. Die Zeit drängt, die Familie ist im Anmarsch. Mit vereinten Kräften gelingt es schließlich den beiden Männern, die Plastiktüte in Einzelteilen aus dem Hundemaul zu zerren. Damit wäre ein Problem gelöst.

Zurück in der Küche geht die Suche nach der Fehlerursache weiter. Das wird zunehmend schwierig, weil dort ein unübersichtliches Durcheinander von Schränken, Geräten und herausgenommenen Schubladen herrscht. Schließlich aber wird die Mühe belohnt. Der Freund findet den Fehler. Es ist der Steuerungsmechanismus. Bis dato war der Chronistin nicht bekannt, dass sie so etwas in ihrem Haushalt beherbergt. Immerhin weiß sie jetzt, dass das, was da schon seit Jahren kaputt ist, Steuerungsmechanismus heißt. Den kann man übrigens nicht reparieren, es muss eine neue Herdplatte her. Heute ist Sonntag, die Reparatur muss vertagt werden.

Nun sollen die wichtigsten Küchengeräte wieder angeschlossen werden. Der Herd nicht, der muss geerdet werden, damit er nichts mehr anrichten kann. Die Waschmaschine und der Kühlschrank werden provisorisch neu verkabelt. Nachdem das Problem zwar nicht behoben, aber immerhin geortet ist, puzzeln die beiden Männer alles notdürftig wieder zusammen, verkabeln neu, was zu verkabeln ist, erden, was nicht mehr funktioniert und schieben Schränke und Küchengeräte wieder auf ihren angestammten Platz. Danach können sie sich den weniger wichtigen Aspekten ihrer Unternehmung widmen: Dem Tohuwabohu in der Küche. Nur zur Erinnerung, Auslöser der Aktion war der Wunsch nach Bratkartoffeln. Also liegen die Zutaten dafür in unterschiedlichen Stadien der Vorbereitung zwischen Schraubenziehern, Winkelmessern und andrem elektrotechnischen Werkzeug unter hastig abgestellten Küchenutensilien, die sonst in den Unterschränken unsichtbar verschwinden.

Verständlicherweise fühlen sie sich diesem Inferno nicht gewachsen. Der Däne ruft seine russische Haushaltshilfe an. Sie kommt sofort und stellt sich dem Dreck der vergangenen Jahrzehnte, zu Tage getreten aus Winkeln , die normalerweise erst beim nächsten Umzug einsehbar gewesen wären. Innerhalb kurzer Zeit blitzt und blinkt der Haushalt. Die Hyggeligkeit ist wieder hergestellt. Nichts deutet mehr auf das Drama der letzten Stunden hin, wenn man von der abgerückten Couch und dem losen Stromkabel absieht, das noch für viele weitere Wochen provisorisch von der Küchendecke abgehängt quer über den Flur zum Sicherungskasten führen wird.

Die Familie findet bei ihrer Heimkehr nur noch den von der Anstrengung ermatteten Dänen mit dem zufriedenem Philip mitten in der aufgeräumten Küche mit den kalten Bratkartoffeln vor. Und da Dänen – wie ja jeder weiß – nicht lügen können, kommt die ganze Geschichte vom kaputten Steuerungsmechanismus, dem polnischen Elektriker und der russischen Putzfrau ein wenig zusammenhanglos ans Licht. Man erfährt auch, dass der Kühlschrank und die Waschmaschine wieder gehen und der Philip um eine Operation herum gekommen ist. Die Chronistin ist froh, dass alle Beteiligten überlebt haben. Vor allem ist sie von diesem Akt der Völkerverständigung beeindruckt, besonders, wenn sie sich ausmalt, unter welchem Zeitdruck die drei verzweifelten Nationalitäten darum kämpften, ihr eine aufgeräumte Küche zu übergeben. Wobei sie sich wahrscheinlich wünschten, München läge weit jenseits der Alpen (von uns aus gesehen).

Was für ein Ereignis! Da tummelt sich innerhalb weniger Stunden halb Europa in einer kleinen Küche im Herzen von Braunschweig. Und, um es auf die Spitze zu treiben, die Herdplatte stammt von einem irischen Hersteller und wird durch ein schwedisches Möbelhaus vertrieben. Nur der Schnauzer, der ist von hier. Er stammt aus Groß Flöthe.

4 Gedanken zu „Internationale Verwicklungen

  1. Herrlich: Mariannes Wahnsinnsgeschichte wirkt im Gegensatz zu einem müden ARD-Krimi wie die Apokalypse mit gutem Ausgang!
    Danke dir für das atemlos machende Lesevergnügen.
    Deine Ursel

    1. Lieben Dank. Wasn Glück, dass die Geschichte unter Starkstrom steht. So kann sie als
      Krimi für meine Lesung in der Braunschweiger Kulturnacht durchgehen. Da wird es um „mörderische Landschaften“ gehen.

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