Bei meinen Lesungen in Pfarrgemeinden komme ich wieder in Kontakt mit den heutigen Gepflogenheiten in Kirchengemeinden. Damals vor 30 Jahren standen die Pfarrhaustüren allen offen, die um Hilfe baten. Das waren besonders Menschen ohne Obdach. In den Pfarrhausküchen gab es heißen Kaffee und etwas Warmes zu essen. Mein Mann und ich hatten damals eine fest umschriebene Arbeitsteilung: Er kümmerte sich als Pfarrer um die Christen und ich mich um die Heiden. Besonders um die, die etwas Warmes zu essen brauchten. Heute scheint diese vornehmste Aufgabe christlicher Gemeinden in Vergessenheit geraten zu sein. Land- und Stadtstreicher werden an das Sozialamt verwiesen. Was das für Menschen in Not bedeutet, kann ich nur erahnen.
Während Landstreicher auf ihrer Wanderschaft nur einmal im Jahr in unserem Pfarrhaus vorbeischauten, waren Stadtstreicher öfter in der Woche da. Das war natürlich nicht unproblematisch. Allerdings ging es bei denen, die immer wieder vorbei kamen um alles oder nichts. Damals wurde einem Stadtstreicher, der es schaffte, zwei Jahre die Stadt nicht zu verlassen und täglich auf dem Rathaus zu erscheinen, eine Wohnung zuerkannt. Verpasste er auch nur einen nur einen Tag, wurde die Zeit von vorne gezählt.
Dazu eine Geschichte, die nicht im Pfarrhausbüchlein steht. Ich hatte auf dem Rathaus meinen Reisepass verlängert und kam fünf Minuten vor zwölf an die Rathauskasse, um meinen Obolus zu entrichten. Am Kassenfenster hing ein Schild „Bin gleich zurück“. Vor mir ein Stadtstreicher, der sein Tagesgeld abholen wollte.
Punkt 12 erscheint der Kassierer, hört sich das Ansinnen des Obdachlosen an und sagt: „Sie sind zu spät. Die Kasse ist gerade geschlossen“. Der Mann will sich davon trollen, da mische ich mich ein: „ Ich stehe hier bereits seit fünf Minuten und möchte meinen Reisepass bezahlen.“ „Natürlich können Sie das tun“, erwidert der Kassierer. „Leider nicht“, erwidere ich, „vor mir steht jemand, der noch länger auf Sie gewartet hat. Warum war die Kasse übrigens während der offiziellen Öffnungszeit nicht besetzt? Wenn ich jetzt meinen Reisepass nicht bezahlen kann, riskieren Sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Denn im Gegensatz zu Ihnen war ich während der Öffnungszeit hier.“ „Aber ich sagte doch …“ stammelt der Kassierer. Ich lasse ihn nicht ausreden: „Erst der Herr vor mir und dann ich. Immer schön der Reihe nach, wenn ich bitten darf.“
Und so kam es, dass dieser Stadtstreicher sein Tagesgeld doch noch bekam. Und ich meinen Reisepass. Nach Kassenschluss.